26: „Mutterliebe per Megaphon“

Dear Swiss people, Megafon Von #RegrettingMotherhood hat mittlerweile wohl so ziemlich jeder was gehört. Schliesslich kam der Artikel der Süddeutschen, der zumindest die deutschsprachige Debatte angestossen haben dürfte, schon vor 11 Tagen raus. 11 Tage voll von hysterischen Artikeln, die händeringend nach Gründen dafür suchten, dass nicht alle Frauen grundsätzlich ihren Lebenssinn in Fortpflanzung finden. Stellt sich die Frage, warum es so lange gedauert hat, bis mein grosses Vorbild, Frau Michèle Binswanger, gestern mit ihrer „Analyse“ zum Thema glänzen durfte .

Aber das ist bei weitem nicht die einzige Frage, die sich beim Lesen dieses Artikelchens aufdrängt, da gibt’s noch mehr:

1. Wenn sie 10 Tage dafür gebraucht hat, warum ist das Textchen dann so kurz und so schlecht?

2. Was will uns die Künstlerin damit sagen? Nicht nur der Titel gibt Rätsel auf und lädt zum Mitraten und Spekulieren ein.

3. Wie rechtfertigt es die Redaktion vor sich selbst, dieses Textschnippselchen von 319 Wörtern  als „Analyse“ zu bezeichnen? Den Fragen 1 und 3 kann ich in diesem Rahmen wohl kaum auf den Grund gehen.

Widmen wir uns daher lieber der genauen Lektüre, dem close reading, wie es in akademischen Kreisen so schön heisst. Gleich im ersten Abschnitt erschafft die Autorin kraft ihrer Worte eine Szene, die vor den Augen des Lesers zum Leben erwacht:

Man stelle sich vor, eine Mutter würde sich mit einem Megafon auf den Marktplatz stellen und darüber lamentieren, dass sie ihr Leben ohne Kinder besser mochte und bereut, Mutter geworden zu sein. Man stelle sich vor, eine ­andere Mutter würde sich dazustellen und mitbrüllen. Es würde wohl bald die Polizei aufkreuzen und die beiden mitnehmen. Im Internet nennt man so etwas Debatte.

Wer kennt das nicht? Man läuft in aller Seelenruhe über einen öffentlichen Platz und auf einmal sieht man sich mit hysterischen Frauen konfrontiert, die irgendwas in ein Megafon schreien. Wohl über ihr Leben oder so. Gott sei Dank kann man sich in diesen Fällen spontaner Meinungsfreiheit stets auf den langen Arm des Gesetzes verlassen. Und wenn Gesetzeshüter kommen und Leute wegen ihren Meinungsäusserungen festnehmen, dann nennt man das „Debatte“, lieber Kinder. Also im Internet. Ein schönes Gleichnis. Aber jetzt im zweiten Abschnitt wieder zum konkreten Fall:

Im deutschsprachigen Raum hat die «Süddeutsche Zeitung» die Diskussion angestossen mit einem Bericht über die israelische Soziologin Orna Donath. Diese interviewte 23 Mütter, die den Entscheid, Mutter zu werden, zutiefst bereuen. Sie veröffentlichte das als Studie, die nun unter dem Hashtag #RegrettingMotherhood breit diskutiert wird.

Ich muss gestehen, ich bin etwas verwirrt. Wo sind die die schreienden Frauen? Ist das jetzt die Soziologin? Oder die Befragten? Und wieso überhaupt schreien? Meint Frau Binswanger womöglich die Leute, die auf Twitter das Hashtag benutzen? Eventuell benutzen die alle Caps Lock. Sehr mysteriös. Aber weiter im Text:

Der Grund dafür scheint klar: Niemand ist abhängiger als Babys von ihren Müttern – ausser vielleicht der Fortbestand der Menschheit davon, dass Mütter ihre Babys lieben. Sollte sich nun herausstellen, dass Frauen immer egoistischer werden, weil nämlich «Mutterschaft ein gesellschaftliches Konstrukt» sei, wie die «Süddeutsche Zeitung» vermutet, wäre das Schicksal der Menschheit wohl besiegelt.

Aha. Niemand ist abhängiger als Babys von Müttern. Ausser vielleicht körperlich behinderte Menschen von ihren Pflegern. Oder anästhesierte Patienten von ihre Ärzten. Oder Gefangene von ihren Wärtern. Oder – Gott behüte – Babies von ihren Vätern oder sonstigen Hauptbezugspersonen. Vielleicht spricht Binswanger aber rein vom Austragungsprozess. Allerdings tragen Menschen nicht unbedingt nur ihre eigenen Kinder aus. Sprechen wir dann immernoch von Müttern? Und, ohne jetzt pingelig werden zu wollen, hängt der Fortbestand der Menschheit nicht eher davon ab, dass Kinder überleben, also eine angemessene Pflege erfahren? Inwiefern kann das nur durch Mutterliebe geleistet werden?

Binswanger begeht einen leider sehr verbreiteten Fehler, indem sie den Ausdruck „gesellschaftliches Konstrukt“ (im Artikel der SZ steht „kulturelles Konstrukt“) so versteht, als basierte Mutterschaft auf einer freiwilligen Mitmach-Basis. Natürlich meinen weder die Süddeutsche noch Donath, dass man seine Kinder ‚eigentlich‘ gar nicht liebt und sie prompt im Wald aussetzen würde, sobald einem gesagt wird, dass es sich ‚lediglich‘ um ein Konstrukt handelt. Vielmehr geht es darum, dass unser Konzept von Mutterschaft durch kulturelle und historische Umstände geprägt ist. Es gibt keine zeitlose und kulturenübergreifende Essenz vom Muttersein, die Idee ist wie etwa auch „Freundschaft“ oder „Ehe“ gebunden an ihre raumzeitlichen Koordinaten. Zu unserer heutigen Vorstellung von Mutterschaft gehören sowohl kulturelle Bilder, rechtliche Bestimmungen, wie auch Elemente des naturwissenschaftlichen Diskurses.

In der Hinsicht hat Binswanger natürlich nicht völlig Unrecht, wenn sie schreibt:

Zunächst hat Mutterschaft unbestritten eine biologische Komponente – womit im Normalfall auch entsprechende Gefühle einhergehen.

Ja, Mutterschaft kann unter dem Aspekt der Biologie betrachtet werden. Beim „Normalfall“ und den „entsprechenden Gefühlen“ wird es schon schwieriger. Die Studie von Donath zeigt gerade, dass dieser Normalfall vielleicht gar nicht so verbreitet ist, wie wir denken. Vielmehr ist er normalisiert, also als Norm etabliert und wahrgenommen. Zudem ist es auch aus historischer Sicht gar nicht entscheidbar, ob sich etwa Mütter im Mittelalter „entsprechend“ gefühlt haben, obwohl es natürlich auch dazu mittlerweile Untersuchungen gibt. Aber sprechen wir genauer über die Biologie: Ist jeder Mensch, der ein Kind zur Welt bringt, eine Mutter? Ist jeder Mensch, aus dessen Eizelle(n) Kinder entstehen, eine Mutter? Wie sieht es mit Adoptionen aus? Wie mit Stiefkindern?  Der Bezug auf die Naturwissenschaften, in diesem Fall auf die Biologie, wird gerne verwendet, um die eigenen Ansichten als objektiv und selbstverständlich darzustellen. Es gibt aber keinen inhärenten Grund dafür, dass eine biologische Definition etwa schwerer wiegen sollte als eine juristische oder eine kulturelle. Auch die Fragen, denen die Biologie nachgeht, sind geprägt vom soziokulturellen Hintergrund der Forscher und Geldgeber. Auf diese Art fliessen die Aspekte also auch hier ein. In dem Versuch einer ausgeglichenen Darstellung erklärt Binswanger ihr Verständnis für eine gewisse Entnervtheit gegenüber anstrengenden Kindern, um dann zu schliessen:

Darüber darf man sprechen. Weil es die Frauen vom Druck, perfekt sein zu müssen, entlastet. Das als Tabu zu bezeichnen, ist allerdings reichlich übertrieben. Dank sozialen Medien hat heute jede immer ein virtuelles Megafon zur Hand und kann die Kampfzone ihrer Selbstzweifel beliebig ausweiten. Was auch ausgiebig getan wird. Viel, viel häufiger aber liest man – auch unter dem Hashtag #RegrettingMotherhood – vom Glück der Mutterrolle. Die Hoffnung für die Menschheit ist also nicht verloren.

Hier ist bereits problematisch, dass eine Person bestimmen möchte, worüber zu sprechen erlaubt ist. Und es wird nicht besser. Mutterschaft zu thematisieren und auch kritisch zu hinterfragen, hilft nicht nur Frauen, ihren eigenen Fehler zu akzeptieren. Eine solche Vorstellung misst sie immer noch am Ideal der perfekten Mutter. Idealisierung von Mutterschaft schadet zudem auch etwa alleinerziehenden Vätern oder jenen in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft, indem sie deren Zuneigung zu den eigenen Kindern herabwürdigt. In diesem letzten Abschnitt fällt auch der fundamentale Widerspruch des Artikels auf: Binswanger erklärt, das Bedauern von Mutterschaft sei kein Tabuthema in der heutigen Gesellschaft und trotzdem sagt sie, „viel, viel häufiger“ wären unter dem spezifisch für dieses Thema geschaffenen Hashtag gegenteilige Aussagen zu lesen. Nicht gerade ein Zeichen dafür, dass eine ungestörte Unterhaltung und eine freie Bekenntnis zu Reue möglich sind. Und hier taucht auch wieder das Megafon auf.

Anscheinend ist Binswanger der Meinung, dass einer (ihrer Einschätzung nach) Minderheit keine für die Allgemeinheit hörbare Stimme zukommen sollte und sich diese Gruppe ungebührlich laut äussert. Hoffnungen für die Menschheit besteht also darin, dass eine Mehrheit sich für die Freuden des Mutterseins ausspricht und die Minderheit so übertönt. Jetzt erklär mir bitte noch jemand, inwiefern das kein Tabu ist.

3 Kommentare

  1. Ich bin leider nicht drausgekommen bei deiner Exegese. Danke trotzdem für den Versuch.

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    1. Macht nix, viel Glück beim nächsten Mal! 😉

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  2. zustimmende · · Antworten

    ich bin drausgekommen und würde alles unterschreiben

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