51: Journalistisches Negging

Dear Swiss people,

Bitte Hand hoch, wem das bekannt vorkommt:

Du erhältst aus beruflichen oder privaten Gründen regelmässig Medienanfragen zum Thema deiner Expertise. Dir ist generell auch daran gelegen, diese Anfragen  zu beantworten, denn du möchtest natürlich, dass alle Bescheid wissen über dein Herzensthema Bienensterben/Attachment Parenting/Polyamorie.

Dafür nimmst du einiges in Kauf und investierst Zeit und Nerven in Interviews, Aufklärungsarbeit, Sensibilisierung der Medienschaffenden, Recherche, behutsame Kritik, Gegenlesen, Fehlerkorrektur und und und.

Und ganz oft lohnt es sich auch! Und dann freust du dich, hast Hoffnung in die Menschheit und bist froh um dein Engagement und die gewissenhafte Arbeit der Journalist_innen.

Aber ab und an musst du auch „Nein“ sagen.

Vielleicht, weil du dich mit dem gefragten Aspekt des Themas nicht auskennst und deshalb lieber darauf verzichten möchtest, dich öffentlich zu Wort zu melden.

Vielleicht, weil du mit der Person oder der Plattform, von der die Anfrage kommt, schon schlechte Erfahrungen gemacht hast.

Vielleicht, weil die Anfrage unhöflich und dazu noch unglaublich dreist formuliert ist: „Ich brauche dringend eine Rechtfertigung der Daseinsberechtigung von so abnormalen Kreaturen wie Ihnen. Schicken Sie mir Ihre Ausführungen innerhalb der nächsten 20 Minuten mitsamt passenden Studien (natürlich peer-reviewed) und statistischer Untermauerung (anwendbar auf Ihren Wohnkanton) zu, sonst kann ich meine Deadline nicht einhalten.“

Vielleicht auch schlicht deshalb weil deine Ressourcen begrenzt sind und du die Grenze einfach irgendwo ziehen musst.

Aus welchen Gründen auch immer, du entscheidest dich zu einer höflichen, aber bestimmten Absage. Wahrscheinlich noch mit ausführlichen Verweisen auf hilfreiche Literatur oder andere Expert_innen, damit die armen Schreiberlinge nicht zu verloren sind. (Aus Angst, die Ärmsten könnten sich so ganz ohne Anleitung im Recherche-Dickicht heillos verlaufen.)

Wer denkt, damit aus dem Schneider zu sein, hat sich bitter getäuscht.

Denn jetzt dreht eine bestimmte journalistische Spezies erst richtig auf und zieht dabei alle Register:

Von Schuldgefühlen über halbgares Negging bis zu mafiösen Drohungen wird alles instrumentalisiert, um dir klar zu machen, dass Gedeih und Verderben deines Zweckes allein in deiner Hand liegen:

„Wenn niemand mit uns spricht, muss man sich nicht wundern, wenn die Gesellschaft kein Verständnis für XXX hat.“

„Der Artikel kommt so oder so raus, es liegt an Ihnen, Ihre Sicht zu vertreten.“

„Wenn Sie nur dann mit den Medien reden, wenn es Ihnen passt, schaden Sie dem Zweck!“

„Es wäre doch schade, wenn nur die andere Seite zu Wort käme…“

„Wenn Sie die Mehrheit nicht von Ihrer Ansicht überzeugen, wird es nie Fortschritt geben.“

Und das ist hart zu lesen und zu hören und zu verdauen! Weil man ja helfen möchte. Weil man ja erklären und aufklären will. Und genau das nutzen diese Personen aus. Denn für sie ist der Inhalt des Artikels meist egal, die Statements beliebig, die Zitate austauschbare Bausteine.Wichtig ist vor allem das Einhalten von Deadlines und die Bespielung populärer Themen. Und das lassen sie dich auch spüren.

Und jaja, Journalist_innen haben es nicht leicht, schon klar; immer prekärere Arbeitsbedingungen, Jobabbau in der Medienlandschaft, geschenkt! Kaum einem Jobsektor geht es momentan nicht an den Kragen. Und wenn man jetzt schon bei Lohnarbeit keine Qualitätsanssprüche mehr haben darf, wo dann? Warum sollte man dann im Umkehrschluss Druck auf jene ausüben, die den unterbezahlten/überforderten Journalist_innen quasi gratis zuarbeiten? Seit wann liegt die Verantwortung eigentlich für einen Artikel bei den Expert_innen, den Interviewten und Befragten und nicht mehr bei den Verfasser_innen?

Einige Medienschaffende kommen mittlerweile mit einer langen und anspruchsvollen Wunschliste zur Arbeit. Von ihrem Gegenüber erwarten sie:

  • Freue dich darüber, dass sich jemand für dein Thema interessiert. Ganz gleich, wie reisserisch/verzerrend/diffamierend der Ansatz sein mag.
  • Akzeptiere die Verantwortung dafür, „dein Thema“ vor der Welt zu verteidigen.
  • Liefere mir die Antworten auf all meine Fragen, ungeachtet des Aufwandes, inklusive Hintergrundrecherche und weiterer Kontaktvermittlung.
  • Passe dich meinem Zeitdruck an, als gälten die Deadlines dir, nicht mir.
  • Sei dankbar, wenn ich dir vor der Veröffentlichung Einblicke gewähre!
  • Kritisiere das Endprodukt nicht; jegliche Probleme sind durch journalistische Freiheiten erklärbar.

Journalist_innen, die professionell und gründlich arbeiten wollen, lagern ihre Arbeit nicht auf Andere aus. Sie arbeiten nicht mit Schuldgefühlen und Erpressungen, sondern mit ehrlichem Interesse, Höflichkeit und Respekt vor der Zeit und Arbeit des Gegenübers.

Es ist nur zu leicht, in den Strudel von emotionaler Erpressung zu geraten, wenn man sich für Thema engagiert, das einem auch persönlich am Herzen liegt. Um trotz allem nicht zynisch oder ausgebrannt zu werden, ist es daher essenziell, sich gut abzugrenzen und sich vor Augen zu führen, was eigentlich wessen Aufgabe ist:

  1. Es ist nicht deine Aufgabe, die Qualität der Berichterstattung zu garantieren.
  2. Es ist nicht deine Aufgabe, unter allen Bedingungen erreichbar und kooperativ zu sein.
  3. Es ist nicht dein Aufgabe, unbezahlt die gesamte Recherche für Leute zu übernehmen, die eigentlich dafür bezahlt werden, das zu leisten.
  4. Es ist nicht deine Aufgabe, dein Leben um die Deadlines anderer Leute zu planen.
  5. Es ist nicht deine Aufgabe, dich unprofessionellen und respektlosen Umgangsformen anzupassen.

Auch, wenn du unentgeltlich arbeitest; die Journalist_innen tun es nicht. Sie brauchen DEINE Hilfe für die Erledigung ihre Arbeit. Daher müssen sie sich auch an professionellen Standards messen lassen. Und wer hauptsächlich mit zeitlichem und emotionalem Druck arbeitet, erfüllt diese Standards in keiner Weise.

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